Hellblade: Senua's Sacrifice (Game Review): Der reine Wahnsinn (2024)

Wenn ein Entwicklerstudio alles dran setzt, um seine Kreation auch selbst zu veröffentlichen, dann sollte man als Gamer aufhorchen. Für das Spiel Hellblade: Senua’s Sacrifice entschied sich Studio Ninja Theory, genau diesen Weg zu beschreiten – ohne lästigen Publisher, der einem aufgrund von Marktprognosen reinredet. Hellblade prägte den Begriff des »Independent-AAA-Games« und war das erste Projekt, das Ninja Theory mit damals nur 20 Mitarbeitern in dieser Form anstrebte. Ein Spiel mit hohem Produktionswert, das sich wie AAA anfühlt, aber kleiner ist – mit fokussiertem Gameplay, zu einem niedrigeren Preis zu erwerben und mit einem riskanten Inhalt. Denn Hellblade erzählt von einer Hauptfigur, die unter Psychosen leidet. Doch keine Sorge: Hellblade ist kein schwer zugängliches, sprödes Kunst-Game, sondern ein eindringliches Action-Adventure mit erstaunlichen Bildern, großartiger Performance und genialem Design.

Senua ist eine junge keltische Kriegerin mit einer düsteren Vergangenheit und einer noch düsteren Zukunft. Wie ihre Mutter leidet sie unter »der Dunkelheit«, einer fürchterlichen Gabe, die mit unzähligen Stimmen zu ihr spricht, und begibt sich freiwillig ins Exil. Als sie zurückkehrt, findet sie ihr Dorf von den Wikingern überrannt vor. Ihr Lebensgefährte Dillion wurde grauenvoll ermordet und präpariert als Opfergabe für die Götter. Verloren und gebrochen beschließt Senua, sein Leben zurückzufordern, indem sie Dillions Schädel zur Todesgöttin Hela nach Helheim bringt. Damit beginnt eine Reise in die Unterwelt, auf der sich Senua Monstern, Göttern und ihren eigenen Ängsten stellen muss.

Sanfter Einstieg …

Hellblade: Senua's Sacrifice (Game Review): Der reine Wahnsinn (6)
OriginaltitelHellblade: Senua’s Sacrifice
Jahr2018
PlattformWindows, PlayStation 4, Xbox One, Nintendo Switch
GenreAction-Adventure
EntwicklerNinja Theory, QLOC
PublisherNinja Theory
Spieler1
USKHellblade: Senua's Sacrifice (Game Review): Der reine Wahnsinn (7)
Veröffentlichung: 4. Dezember 2018

Ein »Independent-AAA-Spiel« also. Man merkt schnell, was damit gemeint ist. Die Optik ist atemberaubend, Senuas Mimik und Bewegungen unglaublich realistisch, das Sound Design over the top. Aber der Inhalt ist … ungewöhnlich. Beginnen wir mit dem Intro. Man sieht Senua in ihrer Nussschale über das Wasser schippern, begleitet von ihren Stimmen. Man läuft, klettert, lauscht, aktiviert Steine, die einem die die Game-Lore näher bringen, und hält auf den seltsam geformten Berg zu. Was wird das hier? Interaktiver Film? Walking Simulator? Kurze Sorge, das Gameplay könnte unter dem künstlerischen Anspruch leiden. Relativ früh wird man mit zwei Nordmännern in den Ring geworfen, die sich durch ein einfaches Kampfsystem besiegen lassen. Relativ früh wird man mit simplen Runenrätseln konfrontiert. Also ein Walking Simulator mit schwachen Rätseln und gelegentlichen Gewaltausbrüchen?

… und starker Anstieg

Keine Panik, das wird kein Walking Simulator. Die erste Regel bei Hellblade lautet: Lasst euch nicht abschrecken. Gebt dem Spiel etwas Zeit und es wird mit euch sehr gut arbeiten. Die Konfrontation mit Valravn, dem Gott der Illusionen, bringt clevere Rätsel mit perspektivischen Tricks mit sich. In einer Reihe von Kriegerprüfungen wird dem Spieler das Augenlicht genommen und er muss sich durch grunzende Monster navigieren. Dann wieder gibt es Abschnitte, die mit der puren Angst spielen, solche, die die Wahrnehmung in Frage stellen, und solche, die einfach nur Geschwindigkeit und Nerven erfordern. Mehr als einmal steht die Akustik im Vordergrund, um die Reflexe der Spielerin auf die Probe zu stellen. Jedes dieser Elemente macht Hellblade unglaublich abwechslungsreich und man hat das befriedigende Gefühl, dass diese Elemente nicht einfach nur ‘ne coole Idee sind, sondern tatsächlich dazu dienen, um Senua zu verstehen.

Die Psyche im Gameplay

Hellblade ist ein Action-Adventure aus der Third-Person-Perspektive. Es ist eine Form der Heldenreise, verpackt als Psychotrip in keltischem Gewand. Ninja Theory geht nicht schüchtern mit Senuas Krankheit um, sondern stellt sie in den Mittelpunkt. Mit Fortschreiten der Handlung nehmen die psychologischen Horrorelemente zu. In der Optik schlägt sich das u.a. durch Verzerrungen und gesteigerte Wahrnehmung nieder. Akustisch sind es natürlich die Stimmen, die zu Senua sprechen. Zum einen die Furien, die immer wieder kommentieren, warnen, in Panik geraten oder Ratschläge erteilen. Zum anderen der Schatten, der Senua völlig zermürbt. Selbst die Rätselmechaniken basieren auf Psychosen. Das Auffinden von Runen in der Umgebung, um z. B. Tore zu öffnen, fußt auf Aussagen realer Patienten, die in alltäglichen Wörtern, Geräuschen und Objekten eine tiefere Bedeutung, eben »Rätsel«, zu sehen beginnen.

Ist das noch spannend oder schon unerträglich?

Je nach Schwierigkeitsgrad (dazu später mehr) mögen die Kämpfe in Hellblade nicht allzu schwer sein, dennoch sind sie im besonderen Maße einschüchternd. Das liegt daran, dass der Kampf stets in einer intimen Sphäre stattfindet. Die Kamera weicht nicht von Senuas Schulter und der Blick ist immer auf den grotesken Gegner vor ihr gerichtet. Wenn weitere Gegner hinzukommen, manifestieren die sich häufig in Senuas Rücken. Dann sind es die Stimmen in Senuas Kopf, die aufschreien und warnen. Meistens rechtzeitig, doch dem Spieler bleibt dennoch das Herz stehen. Mit der Fokus-Taste können wir die Umgebung um uns herum noch einmal anders warnehmen (und erhalten ein paar weitere fancy Gimmicks). Das alles macht die Erfahrung von Hellblade sehr tiefreichend und manchmal schon fast unerträglich.

Immersion … Immersion everywhere

Diese beinahe unerträgliche Art der Erfahrung wird auch durch das Sound Design erreicht, denn für Hellblade haben die Macher die binaurale Aufnahmetechnik verwendet. Auf diese Weise wird der räumliche Höreindruck realitätsnah dargestellt. Man hat eine sehr genaue Vorstellung davon, wo sich die Geräuschquelle im Raum befindet. Bestes Beispiel, um das nachvollziehen zu können, ist der »Virtual Barber Shop« auf YouTube, der bis dato 40 Mio. Aufrufe zählt. Hellblade ermöglicht dieser Art eine völlig neue Form der Immersion. Mal sind die Furien weit weg, mal knabbern sie direkt an deinem Ohrläppchen – es fühlt sich sehr unangenehm an. Der Schatten umkreist dich wie ein Geier, und der gutturale Gesang des Illusionsgottes Valravn geht dir bis in die Knochen. Daher die dringende Empfehlung: Kopfhörer aufsetzen. Es ist unglaublich, was David Garcia als Audio-Lead, quasi als One-Man-Show, auf die Beine gestellt hat. Das auseinanderzunehmen würde einen eigenen Artikel erfordern. Soundaffine Menschen werden Hellblade vielleicht als den neuen Goldstandard bezeichnen.

Einmal tot, immer tot. Oder?

Die Immersion wird auch durch das fehlende Interface unterstützt. Es gibt keinen Gesundheitsbalken. Die Eintrübung der Sicht und die Lautstärke des eigenen Herzschlages geben Auskunft darüber, wie sehr man angeschlagen ist. Schon früh wird in Hellblade auf ein Permadeath-System hingewiesen. Wenn Senua eine gewisse Anzahl an Toden stirbt, breitet sich die Fäulnis der Dunkelheit irreversibel aus und man muss das Spiel komplett von vorne beginnen – so das Gerücht. Bei unserem ersten Durchgang ist uns jedenfalls nichts dergleichen passiert. Wir sind mehr als acht Mal gestorben, doch nicht wir wurden auf Anfang zurückgesetzt, sondern die Fäulnis. Trotzdem macht dieses Gerücht das Spiel noch spannender.

Der Schwierigkeitsgrad

Es gibt vier Schwierigkeitsgrade in Hellblade: Easy, Medium, Hard und … Auto. Das heißt, das Spiel passt sich deinem Können an, abhängig davon, wie viel Schaden du in einer bestimmten Zeit verursachst. Abhängig davon, wie lange du es schaffst, nicht zu sterben. Abhängig davon, wie lange du den aufgebauten Fokus nicht verwendest. Je besser man also ist, desto mehr Gegner werden spawnen, desto intelligenter verhalten sie sich im Kampf, desto mehr Schaden richten sie an, desto stiller werden die Stimmen, die Senua für gewöhnlich warnen. Der Brückenkampf kurz vor Ende hält auf »Hard« vielleicht sechs Gegner bereit. Es gibt aber auch Videos, wo »Auto«-Player es mit 26 Gegnern zu tun haben.

Fazit

»Himmel, Arsch und Zwirn« – mein liebster Ausdruck während des gesamten Spiels. Passt universell auf alles: Wenn mir das creepy Leveldesign die Sprache verschlägt. Wenn der 3D-Sound an meinen Nerven sägt. Wenn nach einem intensiven Kampf drei neue Gegner auftauchen und man einfach nicht mehr will (Stichwort: »Sea of Corpses«). Hellblade ist für mich das intensivste Spielerlebnis seit langem (seit immer?).
Aber klar: Wie bei jedem Spiel, bei dem Story und Charakter so wichtig sind, unterscheiden sich die Erfahrungen. Manch einer wird keinen gescheiten Zugang zu Senua und ihrer Heldenreise finden und das Spiel daher weit weniger kraftvoll finden. Für mich aber ist Hellblade außergewöhnlich; dieses Engagement des Studios für seine Hauptfigur und die Vision, die dahinter steckt. Dazu das binaurale Sounddesign, diese geile Dialogperformance, die nervenaufreibenden Kämpfe, Valravns Gesang und dieser eine Gedichtvortrag, für den ich allein schon 30 Euro hinggeblättert hätte. Ich werde die »First time experience« dieses Spiels vermissen. Volle Punktzahl von mir. »Hela Wahnsinn«, hehe … sorry.

© Ninja Theory

Hellblade: Senua's Sacrifice (Game Review): Der reine Wahnsinn (2024)

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